Interview zur 4.0 NOW Fabrik: „Innovationen zusammenführen“

02.06.2020

2019 hat SICK die Tore zu der 4.0 NOW Fabrik in Freiburg geöffnet. In der Zwischenzeit haben nicht nur Besuchergruppen spannende Einblicke in die Produktion erhalten, sondern auch Joachim Schultis, Head of Operations Photoelectric Sensors & Fibers, über die Fabrik selber. Welche Learnings Schultis und sein Team in den vergangenen Monaten aus dem Betrieb gezogen haben? Darüber spricht er mit dem SICK Sensor Blog.

Welche Learnings Schultis und sein Team in den vergangenen Monaten aus dem Betrieb gezogen haben? Darüber spricht er mit dem SICK Sensor Blog.
Joachim Schultis (links), Head of Operations Photoelectric Sensors & Fibers
Welche Learnings Schultis und sein Team in den vergangenen Monaten aus dem Betrieb gezogen haben? Darüber spricht er mit dem SICK Sensor Blog.
Joachim Schultis (links), Head of Operations Photoelectric Sensors & Fibers

 

Herr Schultis, Sie sind Produktionsleiter in einer nach Industrie 4.0 Prinzipien arbeitenden Fabrik. Wie unterscheidet sich Ihre Aufgabe von der eines Produktionsleiters in einer herkömmlichen Fabrik?

Schultis In einer herkömmlichen Fabrik geht es darum, die Gesamteffizienz durch Anwendung bekannter Vorgehensweisen und Methoden kontinuierlich zu steigern. Das Ziel in einer I4.0 Fab ist genau das gleiche: nämlich die Gesamteffizienz zu steigern. Jedoch unterscheidet sich der Weg dorthin. Es geht primär darum, aus dem, was wir sehen, zu lernen und die richtigen Weichen in die Zukunft zu stellen. Das Neue bietet Chancen bestehende Grenzen der „alten“ Welt zu überwinden und Gesamteffizienz neu zu definieren - ganz gleich über welche Disziplin, Technologie oder Methode wir reden. Als Produktionsleiter geht es darum, aus der neuen Vorgehensweise zu lernen und den Mut zu haben, die Grenzen des Bekannten zu überwinden, hierbei schaffen die neuen Technologien erst die Voraussetzung, um überhaupt erst Grenzen verschieben zu können.

 

Welche Key-Learnings haben Sie in den vergangenen Monaten aus dem Betrieb gezogen?

Schultis Die Komplexität eines neuen Produktionssystems, wie wir es hier geschaffen haben, stellte die Organisation vor neue Herausforderungen. Wir mussten uns organisatorisch neu aufstellen, um einerseits entsprechend der Kundenbedürfnisse marktgerecht zu produzieren und andererseits das Produktionssystem als Ganzes weiterzuentwickeln, während es neue Varianten zu integrieren galt. Da stoßen herkömmliche Planungs-und Steuerungssysteme recht schnell an ihre Grenzen. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, haben wir agile Arbeitsformen eingeführt, mit denen wir wesentlich flexibler auf die sich dynamisch ändernden Zielanforderungen reagieren können. Unsere agilen Teams greifen in ihren Stand-up-Meetings und Sprints auf Echtzeitdaten oder auf bereits aufbereitete Informationen, welche wir durch die Data Mining Prozesse gewinnen, für die Entscheidungsfindung zurück. Und in der Tat: auch hier stehen wir erst am Anfang und lernen täglich. Um Ihre Frage nach „Key-Learnings“ nochmal aufzugreifen: Wir haben gelernt, dass wir technische und organisatorische Innovationen kombinieren müssen, um radikal schneller und zielsicherer zu agieren und die neuen Mehrwerte zu nutzen.

 

 

 

Können Sie diese Vorteile näher ausführen? 

Schultis Wir haben in den vergangenen Monaten beispielsweise neue Produkte in die Fertigungslogik implementiert. Dabei haben wir schon in der Prototypenphase von den hochautomatisierten Anlagen profitiert und mussten für die Prototypen nicht extra eine Anlage von Hand aufbauen. Und es funktioniert. Die Flexibilität der Fabrik spricht für sich. Wir fertigen Prototypen parallel zur Serienproduktion.

 

Wie realisieren Sie diese Flexibilität? 

Schultis Unsere Fabrik ist modular aufgebaut. Die einzelnen voll- und teilautomatisierten Fertigungsmodule sind über kleine autonom fahrende Carts (AGCs) miteinander verbunden. Im Gegensatz zu einer laufenden Serienfertigung können wir hier einfach Versuche laufen lassen oder einfach neue Produkte implementieren. Wenn eine kleine Störung auftaucht, steht nicht sofort eine gesamte Fertigungsanlage. Darin zeigt sich die pure Flexibilität. Das führt dazu, dass wir hier mit deutlich weniger Schmerzen in Summe durch eine Anlaufphase gehen. Wir sind deutlich robuster unterwegs und haben weitaus mehr Freiheitsgrade.

 

Wie sieht es denn im Störungsfall einer Anlage aus? Könnte einfach eine andere übernehmen?

Schultis Ja, das geht. Wir haben zwar nicht alles gedoppelt, aber wir haben Prozesse, die wir vollautomatisch oder manuell ausführen können. Dabei übernimmt das übergeordnete und eigens für die Fabrik entwickelte Manufacturing Control Systems die Steuerung des Materialflusses.

 

Im letzten Jahr haben Sie von fünf Produktfamilien gesprochen. Wie ist da der Stand? 

Schultis Wir haben zwischenzeitlich zusätzlich zwei Produktfamilien implementiert und damit aktuell sieben Produktfamilien im Produktionsprozess, zwei weitere kommen bis Jahresende hinzu. Innerhalb dieser Familien wachsen die Varianten. Aktuell haben wir eine vierstellige Variantenzahl implementiert. Die Maschinen machen dieses Wachstum problemlos mit. Wir produzieren aktuell sogar neben sicheren, auch nicht sichere Produkte auf den selben Modulen.

Wir haben zwar nicht alles gedoppelt, aber wir haben Prozesse, die wir vollautomatisch oder manuell ausführen können.
Wir haben zwar nicht alles gedoppelt, aber wir haben Prozesse, die wir vollautomatisch oder manuell ausführen können.

 

Sie haben eingangs das Data Mining angesprochen. Können Sie uns die Erkenntnisse, die Sie gewonnen haben, mit uns teilen?

Schultis Wir haben unsere Daten im Produktionsumfeld in drei Hauptkategorien eingeteilt. In der Kategorie Smart Manufacturing gehen wir auf Prozesslevel, um die Qualität zu verbessern, die OEE (Overall Equipment Effictiveness) zu steigern und so weiter. Das ist ein Schwerpunktthema. Das zweite ist das Thema Predictive Maintenance. Hier nutzen wir digitale Signale, um Wartungsthemen möglichst effizient umzusetzen. So haben wir nicht immer starre Wartungszyklen, sondern Sensoren und Aktoren melden sich, sollte eine Wartung notwendig sein. In der dritten Kategorie geht es um das Thema Energiemanagement. Wir haben gelernt, was die gesamte Halle an Energie verbraucht, im ganzen Jahr. Zukünftig wird uns diese Transparenz dabei helfen, möglichst energieeffizient und nachhaltig zu produzieren, weil wir zu Zeiten produzieren könnten, die günstiger sind.


Sind Sie auch schon in der Lage Konsequenzen aus den Daten zu ziehen? Im Sinne von I 4.0? 

Schultis (Lacht) Diese Frage muss ich mit einem hochrespektvollen JEIN beantworten. Ja, wir sind schon in der Lage erste Konsequenzen zu ziehen. Und ja, je mehr wir uns damit beschäftigten desto größer wird der Raum der möglichen Potentiale. Ein kleines Beispiel: Wir überwachen jetzt digital die Druckluft in unseren Produktionsmodulen. Das gab es früher nicht. Wenn der Druck abgefallen ist unter 5 Bar, dann haben wir erst mitgekommen, wenn es zu einer fehlerhaften Produktion kam. Das überwachen wir jetzt digital mit Warngrenzen. Wenn diese über oder unterschritten werden, dann lösen wir über den BPM (Bosch Performance Manager) ein Ticket für den Support aus. Ein weiteres Beispiel ist die Verfahrgeschwindigkeit von Zylindern. Typischerweise kann man daran Verschleißerscheinungen erkennen. Diese Daten helfen uns zukünftig dabei, Wartungswarngrenzen von verschiedensten Aktoren/Sensoren zu erheben. Das Ziel muss sein, Störungen/Ausfälle zu erkennen, bevor Sie entstehen.

 

Ist schon etwas passiert, das Sie ohne die Daten nicht entdeckt hätten? 

Schultis Wir hatten die Situation in einem Modul, in dem wir die Druckluft mit unserem SICK Sensor FTMg überwachen. Der Sensor selbst ist über ein Gateway (TDC-E) mit der Cloud verbunden. In dieser Cloud haben wir den BPM gehostet, der uns dabei hilft, die Daten zu visualisieren. Daraus können wir ein Pulsieren der Versorgungsdruckluft erkennen und entsprechende Maßnahmen ableiten. Wäre der Fehler unentdeckt geblieben, hätte es dazu geführt, dass sich ein Umschaltventil verabschiedet. Wir konnten es vorzeitig austauschen und so einen Maschinenstillstand verhindern. Spielt Deep Learning auch in der Fabrik der Zukunft eine Rolle? Auf jeden Fall. Deep Learning ist eine Technologie, die uns in unterschiedlicher Art helfen kann, besser zu werden. Wir arbeiten gerade an einer Lösung, mit der wir neuronale Netzwerke in unserer Qualitätsprüfung nutzen können. Konkret soll das eine Inline-fähige automatische optische Inspektion (AOI) von Lötstellen werden. Sie sehen, wir lernen täglich dazu und testen neue Technologien.

 

Würden Sie diesen Satz für uns beenden? Die Fabrik der Zukunft… 

Schultis … muss in der Gegenwart begonnen werden, sonst bleibt die Zukunft die „ewige“ Zukunft. Wir können heute die Chance nutzen mithilfe von Daten Mehrwert zu generieren und somit möglichst effizient zu produzieren.

 

 

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