In Norddeutschland haben sie die Roboterwelt buchstäblich auf den Kopf gestellt. Entstanden ist damit eine außergewöhnliche Materialflusslösung. Die Idee von cellumation aus Bremen: Autonome Fußballroboter zu Einheiten zusammenfassen – und dann umdrehen. Der Clou dabei: Statt mit einem Dreiecksverbund aus drei Antrieben frei auf der Fläche dem Ball hinterher zu jagen, lässt sich auf umgekehrte Weise Ware frei auf einer Fläche bewegen. Die Spielzüge einzelner Akteure gehen damit – als Teamleistung quasi - in einer maximal flexiblen Streckenführung für Waren aller Art auf. Den notwendigen Überblick von der Außenlinie schaffen 3D-Vision-Kameras von SICK.
Das Logistikspielfeld im Blick: wie eine 3D-Vision-Kamera den Materialfluss optimiert
3D Bilder für die Streckenführung auf der Fläche
Die auf den Kopf gestellte Robotermannschaft bildet ein wabenförmig verbundenes Transportsystem. Wie viele Einheiten in einer Applikation zu einem Ganzen verbunden werden, hängt von den fördertechnischen Aufgaben, der geforderten Leistung sowie dem Gewicht der Verpackungseinheiten ab. Damit die individuell konfigurierbaren Module dabei ein Höchstmaß an Standardisierung behalten, bietet cellumation den Einzelspieler nur in zwei Größen- und Leistungsvarianten an. Sie sind vom Layout her konstruiert für 150er und 200er Zellenabstände. Die größeren Einheiten sind für größere Pakete zugeschnitten, um die Anzahl an Zellen pro Flächeneinheit zu begrenzen. Was gleich bleibt, ist die komplette Steuerungstechnik samt Anbindung der 3D Time-of-Flight-Kameras Visionary-T Mini von SICK.
Die Besonderheit dieses 3D-Verfahren besteht darin, dass das räumliche Sehen über Lichtlaufzeiten erzeugt wird. Die Kamera benötigt also keine zwei Optiken, wie das bei der sogenannten Stereoskopie sowie dem menschlichen Sehen üblich ist. Visionary-T Mini misst stattdessen für jeden Punkt eines Objektes simultan, wie lange die Laufzeit des kameraeigenen Infrarotslichtes von der Quelle zum Objekt und - nach der Reflektion - wieder zurück, ist. Aus diesen Zeitwerten einer einzigen, kurzen Aufnahme, bildet die Rechenintelligenz der Kamera eine 3D-Punktwolke, mit deren Hilfe sich Objekte im Raum dreidimensional erfassen lassen. Die 3D-Daten geben verlässliche Auskunft über die Größe und Position eines Objektes – und zwar zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Dieses Detail macht den Unterschied aus zur Arbeitsweise von 3D-Laserscannern, die ein Bild zeilenweise erzeugen.
Erste Forschung mit Spielzeugkameras
Für cellumation war dieses Verfahren ausschlaggeben für die Bewegungsführung auf dem Tisch des celluveyor. „3D-Scanner haben eigentlich ein Problem mit bewegten Objekten“, erklärt Claudio Uriarte, der das Unternehmen 2017 zusammen mit Dr. Hendrik Thamer gründete. Beide Wissenschaftler arbeiteten seinerzeit für das Bremer Institut für Produktion und Logistik. Bereits in ihrer wissenschaftlichen Arbeit beim BIBA – einer Gesellschaft, die zur Uni Bremen gehört – war die Forschung geprägt von der Intralogistik und der Suche nach Lösungen für das autonome Entladen von Containern. „Wir setzten Anfangs 3D-LiDAR-Sensoren von SICK ein“, blickt Claudio Uriarte zurück. Und dann kamen richtige 3D-Vision-Kameras auf den Markt – die allerdings eingebaut in Spielkonsolen. „Wir haben mit den Kameras viel gearbeitet und getestet. Geblieben ist dabei der Wunsch nach einer robusten Lösung für den industriellen Einsatz.“ Auf die neuen Visionary-Kameras mit ihrer 3D Snapshot Technik sind die beiden Wissenschaftler dann klassisch durch eine Pressemeldung gestoßen. Das war der Beginn einer intensiven Zusammenarbeit mit SICK auf Projektebene.
Bilder frei von Artefakten
Doch warum die lange Suche nach einer industrietauglichen 3D-Vision-Kamera, wenn es entsprechende Scanner schon gab? Es blieb das kurz erwähnte Problem der Scanner im Umgang mit beweglichen Objekten – und die gibt es nun einmal reichlich in der Intralogistik. Claudio Uriarte spricht hier von einem Schweif, den die Laserscanner beim zeilenweisen Abtasten hinter sich herziehen, wenn Objekte nicht in Ruhe sind. Die „Motion-Artefakte“ sind wie ein nachgelagerter Geist. Mit der Visionary-T Mini liegen hingegen durch die einmalige, kurze Belichtung, dem 3D-Snapshot, eineindeutige Aufnahmen ohne diese Artefakte vor. „Damit erhalten wir bis zu 30 Bilder pro Sekunde. Die Daten sind dabei frei von Unschärfen und erlauben es uns, daraus eine exakte Bewegungssteuerung abzuleiten.“ Die Visionary-T Mini übernimmt in diesem Aufbau also die Rolle einer schnellen Rückführung mit dem Ziel, einen schnellen und geschlossenen Regelkreis zu erhalten.
30 Bilder pro Sekunde und das jeweils als dreidimensionale Punktwolke: Damit dieses Messverfahren nicht zu unbeherrschbaren Datenmengen führt, übernimmt die SICK-Kamera eine Vorverarbeitung, die dann von der Steuerung des celluveyors in Positionsdaten umgewandelt wird. Hilfreich sei es nach Auskunft von Claudio Uriarte, dass sich die von der Kamera gelieferte Punktwolke aus 3D-Koordinaten sehr gut segmentieren lasse. „Wir unterscheiden klar, welche Daten zu einem Paket gehören und was stationär zum Tisch. Im Postprocessing können wir dann alles wegschneiden, was für die Bewegungsführung irrelevant ist.“
Und alle bewegen sich gleichzeitig
Integriert hat das Bremer Unternehmen die Kameras direkt über dem Verteiltisch. Erfordert eine intralogistische Applikation eine größere räumliche Dimensionierung des Moduls, greift cellumation zu einem Kameraverbund, damit es bei der Überwachung von Paketbewegungen keine blinden Flecken auf der Strecke gibt. Diese vollständige Begleitung mit dem 3D-Auge ist notwendig, weil es beim celluveyor keine feste Streckenführung gibt. Die Steuerung der Einheit berechnet anhand der gelieferten Ist-Positionen immer wieder neu die ideale Verbindung zwischen Eingang und Ausgang. Auf diese Weise kann der celluveyor mehrere Pakete gleichzeitig und auch nebeneinander verarbeiten. Diese Eigenschaft führt zur genannten Performance des Systems. Ein weiterer Vorteil: Nicht vorhersehbare Bewegungen eines Pakets aufgrund variierender Gewichte oder der Haptik des Verpackungsmaterials wirken sich nicht auf den Prozess aus. Verlässt ein Gut etwa die ursprünglich berechnete Route, ist dieses unerheblich für die weitere Strecke. Der Grund: Die Steuerung berechnet auf Basis der von der Visionary-T Mini gelieferten Ist-Position einfach den Weg neu. Dieses Verfahren stellt eine echte Innovation dar und verhindert wirksam, dass Pakete kollidieren oder sich verklemmen. Das wiederum macht den Materialfluss in der Intralogistik ein gutes Stück verlässlicher und verbessert die Gesamtanlagenverfügbarkeit.
cellumation ist es mit dem Setup aus einzelnen Antriebsmodulen und 3D-Kameratechnik gelungen, ein echtes Rennpferd für die Intralogistik zu bauen. „Wir sind idealerweise in Bereichen im Einsatz, die Entscheidungen bei der Streckenführung erfordern. Wir sind zum Beispiel eine ideale Ergänzung zu statischen Gurt- oder Rollenförderern“, beschreibt Theresa Gröninger das Marktpotenzial. Die Lösung aus Bremen bietet sich aufgrund ihrer leichten Integrationsfähigkeit auch an, um die Produktivität und Flexibilität von Bestandsanlagen im Rahmen eines Retrofits zu verbessern.
Ausgezeichnet wurde die Technologie jüngst durch den „Innovationspreis Logistik“ 2024 der VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik. Mit diesem Preis werden Unternehmen ausgezeichnet, die Herausragendes für die Innovation der Logistik geleistet haben.