Mehr Sicherheit für Mensch und Maschine

08.09.2025

Interview zur neuen Roboter-Norm ISO 10218  

Die Sicherheit in der Robotik gewinnt angesichts der zunehmenden Automatisierung und Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) weiter an Bedeutung. Mit der überarbeiteten ISO 10218-Norm wurde nun ein internationaler Sicherheitsstandard grundlegend modernisiert. Wir haben mit dem SICK-Kollegen Markus Bechtel, Application Engineer Robotics und Safety Solutions, über die wichtigsten Neuerungen und Änderungen gesprochen.

A man is working on an industrial robot
A man is working on an industrial robot

Was ist neu an der ISO 10218:2025?

Markus Bechtel
Markus Bechtel am Roboter

Markus Bechtel: Die ISO 10218 ist die zentrale internationale Norm für die Sicherheit von Industrierobotern. Sie besteht weiterhin aus zwei Teilen: Teil 1 richtet sich an Roboterhersteller und definiert Anforderungen an die Konstruktion von Industrierobotern als unvollständige Maschinen. Teil 2 richtet sich an Systemintegratoren und beschreibt die sicherheitstechnische Integration von Robotern in Maschinen und Anlagen.

Neu ist vor allem die vollständige Überführung der bisherigen ISO/TS 15066, die nun kollaborative Applikationen – also Mensch-Roboter-Kollaboration die eine direkte Interaktion mit dem sich bewegenden Roboter erlauben – normativ regelt. Ein zentrales Element sind die biomechanischen Grenzwerte, die definieren, welche Kräfte und Druckbelastungen bei einer Kollision zwischen Mensch und Roboter zulässig sind. Diese Werte bilden die Grundlage für die sicherheitstechnische Auslegung kollaborativer Applikationen.

 

 

Warum war die Überarbeitung notwendig?

Bechtel: Die bisherige Norm stammt aus den Jahren 2011, seither hat sich die Robotik rasant weiterentwickelt. Neue Technologien und integrierte Sicherheitsfunktionen, KI-gestützte Systeme und vernetzte Produktionsumgebungen haben neue Risiken, aber auch neue Chancen geschaffen.

Die Aktualisierung war notwendig, um den Stand der Technik abzubilden, insbesondere im Bereich der Mensch-Roboter-Kollaboration. Auch im Sinne der ab Januar 2027 geltenden EU-Maschinenverordnung wurde die zunehmende Bedeutung von Cybersecurity in der industriellen Automatisierung berücksichtigt.

Welche Bereiche und Applikationen werden durch die Norm abgedeckt?

Bechtel: Die ISO 10218 ist branchenübergreifend anwendbar – sie richtet sich nicht an spezifische Industriezweige, sondern gilt für alle Applikationen, in denen Industrieroboter eingesetzt werden. Das umfasst klassische Fertigungsstraßen ebenso wie flexible, kollaborative Arbeitsplätze oder hochautomatisierte Anlagen in unterschiedlichsten Branchen – von der Automobilindustrie über die Elektronikfertigung bis hin zur Medizintechnik. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen einzelnen Roboter in einem Handwerksbetrieb oder um eine ganze Roboterflotte in einer komplexen, vernetzten Industrieumgebung handelt.

 

Welche strukturellen Änderungen gibt es?

Bechtel: Erstmals unterscheidet die ISO 10218-1:2025 zwischen zwei Roboterklassen – und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass sich große, schwere Industrieroboter deutlich von kleineren, schwächeren Robotern für kollaborative Applikationen unterscheiden. Diese Unterschiede betreffen sowohl die Risiken als auch die typischen Einsatzszenarien. Die Norm führt daher zwei Risikoklassen mit jeweils spezifischen Anforderungen an Sicherheit, Steuerung und Integration ein. Diese Klassifizierung schafft mehr Klarheit für Hersteller und erleichtert die risikobasierte Auslegung von Schutzmaßnahmen.

Zudem wurde die Struktur überarbeitet, um die Lesbarkeit und Anwendbarkeit insgesamt zu verbessern.

Ein besonders wichtiger Aspekt der neuen Sicherheitsanforderungen betrifft die funktionale Sicherheit. Während in der bisherigen Norm häufig pauschal ein Performance Level d (PLd) gefordert wurde – unabhängig von Roboterart oder Applikation –, ermöglicht die neue ISO10218-2:2015 alternativ, die tatsächlichen Risiken nun differenzierter zu betrachten.

Das bedeutet: Für jede sicherheitsbezogene Funktion – etwa Not-Halt, sichere Geschwindigkeitsüberwachung oder sichere Positionsbegrenzung – wird nun ein applikationsabhängiger PL-Wert definiert, der sich an der Risikobewertung orientiert.

Um den Benutzer bei der Ermittlung der Risiken zu unterstützen, bietet die Norm ein umfangreiches Tabellenwerk mit Grenzwerten an, die helfen, die einzelnen Risikoparameter wie Schwere, Exposition, Eintrittswahrscheinlichkeit und Vermeidbarkeit zu bestimmen. So lassen sich Sicherheitsstrategien besser gemäß dem ALARP-Prinzip - as low as reasonable practible - implementieren, was neue Möglichkeiten hinsichtlich der Realisierung von Applikationen ermöglicht. 

Auch der manuelle Betrieb im Einrichtmodus (Teach-Modus) wurde konkretisiert. Die Norm stellt nun klarere Anforderungen an die reduzierte Geschwindigkeit, die sichere Überwachung der Bewegungen und die Gestaltung der Benutzerführung in diesem Modus – insbesondere bei Robotern der Klasse II. Ziel ist es, Risiken beim Einrichten und Programmieren weiter zu minimieren

Übersichtstabelle über die Roboterklassen
Übersicht über die Roboterklassen
Übersichtstabelle über die Roboterklassen
Übersicht über die Roboterklassen

Was bedeutet das für Hersteller und Integratoren?

Bechtel: Roboterhersteller müssen ihre Produkte künftig noch gezielter auf bestimmte Applikationen und Risikoprofile auslegen und höhere Anforderungen an die Dokumentation der Risikobeurteilung, Sicherheitsfunktionen, Performance Level und Cybersecurity erfüllen. Das erhöht den Entwicklungsaufwand, schafft aber auch mehr Klarheit im Hinblick auf die spätere Integration.

Systemintegratoren profitieren von der klareren Struktur, insbesondere durch die Integration kollaborativer Applikationen und die Definition standardisierter Sicherheitsfunktionen. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Qualität und Nachvollziehbarkeit der Risikobeurteilung sowie an die Dokumentation und Validierung. Die Norm empfiehlt deshalb bei der Auswahl und Ausgestaltung der Roboterapplikation eine enge Abstimmung zwischen Integrator und Benutzer (Betreiber), insbesondere diesen bei der Risikobeurteilung frühzeitig einzubinden. Das setzt eine enge Zusammenarbeit zwischen Konstruktion, Steuerungstechnik und funktionaler Sicherheit voraus – und damit interdisziplinäres Know-how sowie strukturierte Prozesse.

Auch wenn sich die Norm nur an den Roboterhersteller und den Systemintegrator wendet, hat sie auch den Betrieb und somit den Betreiber im Blick. ISO 10218-2:2025 definiert Anforderungen an Informationen, die der Hersteller zum sicheren Betrieb mitgeben muss, wie z.B. zu notwendigen Checks und Inspektionszyklen.

 

Welche Herausforderungen bringt die Umsetzung mit sich?

Bechtel: Die größte Herausforderung liegt in der Nachrüstbarkeit bestehender Systeme – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die neue Maschinenverordnung nun auch das Thema der wesentlichen Veränderung europaweit geregelt hat. Was früher im „Blue Guide“ zur Maschinenrichtlinie und in Deutschland durch das BMAS interpretiert wurde, ist nun klar im EU-Recht verankert – und schafft damit mehr Rechtssicherheit für Betreiber und Integratoren.

Viele ältere Roboteranlagen wurden nach den bisherigen Normen ausgelegt und erfüllen die neuen Anforderungen – etwa im Hinblick auf Cybersecurity oder funktionale Sicherheit – nur teilweise. Für Betreiber und Integratoren bedeutet das, dass sie bei Umbauten oder Erweiterungen die neue ISO 10218-2:2025 als Stand der Technik berücksichtigen und – im Fall einer wesentlichen Veränderung – eine neue CE-Konformitätsbewertung nach den Anforderungen der MR und zukünftig Maschinenverordnung durchführen müssen.

Auch die technische Dokumentation wird umfangreicher: Die neue Norm verlangt eine präzisere Beschreibung sicherheitsrelevanter Funktionen, deren Validierung und – im Fall von Abweichungen – eine nachvollziehbare Begründung.

Nicht zuletzt stellt die Umsetzung der neuen Anforderungen kleinere Unternehmen vor personelle und fachliche Herausforderungen. Hier gewinnen Partnerschaften mit erfahrenen Experten sowie der Rückgriff auf vorzertifizierte Komponenten und Lösungen zunehmend an Bedeutung.

Wie unterstützt die Norm die Mensch-Roboter-Kollaborationen?

Bechtel: Die neue ISO 10218:2025 schafft erstmals eine vollständige normative Grundlage für Mensch-Roboter-Kollaboration. Neben den biomechanischen Grenzwerten definieret sie auch die Messverfahren zur Validierung dieser Werte. Ergänzt wird dies durch klare Anforderungen an die Risikobeurteilung Schutzmaßnahmen und Benutzerführung – etwa im Einrichtmodus (Teach-Modus).

 

Welche Technologien helfen bei der Umsetzung?

Bechtel: Bei der Integration von Industrieroboterzellen – insbesondere in nicht-kollaborativen Applikationen – stehen nach wie vor klassische Schutzprinzipien im Vordergrund. Dazu zählen:

  • Schutzeinrichtungen wie Zäune, Schutztüren, Laserscanner, Lichtvorhänge, Kameras und Radarsensoren
  • Sichere Steuerungstechnik mit Not-Halt, Zustimmeinrichtungen und sicheren Betriebsarten
  • Zugangsüberwachung und sichere Zustandsübergänge zwischen Betriebsarten (z. B. Automatik ↔ Einrichten)

 

Auch in kollaborativen Applikationen können technische Schutzmaßnahmen entscheidend zur Effizienz und Prozesssicherheit beitragen. So ermöglichen etwa intelligente Schutzfeldüberwachungen, dass ein Roboter nur bei tatsächlicher Annäherung in den reduzierten Leistungsmodus wechselt – was unnötige Leistungsminderungen vermeidet und die Produktivität erhöht. 

Kontrollierte Zugänge helfen, Prozessstörungen zu vermeiden und können sich positiv auf die Risikobeurteilung auswirken – etwa, wenn unbeteiligte Personen („Passer-by“) ausgeschlossen werden können.

Innovative, berührungslos wirkende Schutzeinrichtungen am Endeffektor zur Absicherung der mit dem Werkzeug oder Werkstück verbunden Restrisiken oder 3D-Vision-Systeme ermöglichen neue Ansätze, mit denen sich klassische aber insbesondere auch kollaborative Applikationen noch produktiver gestalten lassen.

Die neue Norm fördert einen ganzheitlichen Sicherheitsansatz, der technische, organisatorische und menschliche Faktoren gleichermaßen berücksichtigt.

Für die Auswahl geeigneter Absicherungskonzepte empfiehlt es sich, sich von der konkreten Applikation und den Produktivitätsanforderungen anzunähern. So lässt sich ein passendes Absicherungskonzept ableiten, das Sicherheit und Effizienz optimal verbindet. Das Versprechen auf zusätzliche Sicherheitsgräte verzichten zu können, beweist sich in den allermeisten Fällen als nicht zielführend. 

Investitionen in intelligente Absicherungskonzepte zahlen sich meist schnell aus – durch höhere Anlagenverfügbarkeit, weniger Stillstand und Vermeidung von Manipulationsanreizen.

 

Was sollten Maschinenhersteller jetzt tun?

Bechtel: Hersteller sollten frühzeitig und systematisch vorgehen, um die Anforderungen der neuen ISO10218-2:2025 zu erfüllen. Ein möglicher Fahrplan könnte wie folgt aussehen:

  • Normenkenntnis aufbauen 
  • Interne Prozesse und Verantwortlichkeiten klären
  • Bestandsaufnahme durchführen
  • Risikobeurteilung aktualisieren
  • Technische Anpassungen planen
  • Anpassungen durchführen. Dokumentation erweitern

 

Wie unterstützt SICK Unternehmen bei der Implementierung der neuen Regelungen?

Bechtel: SICK unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung der neuen ISO 10218-2:2025 mit einem praxisnahen Leitfaden, der auf langjähriger Erfahrung basiert. Darin zeigen unsere Sicherheitsexperten detailliert auf, worauf es bei der normkonformen Gestaltung von Roboteranwendungen ankommt. Ergänzend dazu bieten wir gezielte Kundentrainings an, mit denen Unternehmen ihr Wissen kontinuierlich vertiefen und auf dem neuesten Stand halten können.

 

 

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